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DDR – Fußnote

 DDR als Fußnote

Professor Ulrich Wehler wurde in der Wochenzeitung „Die Zeit“ mit dem Satz zitiert, die DDR sei als Satellit der Sowjets nicht mehr als eine Fußnote in der Geschichte wert. (1) Als ein der Wahrheitssuche verpflichteter Historiker gibt es für mich keinen Zweifel an der Güte seiner wissenschaftlichen Leistungen. Als jemand jedoch, der an der Humboldt-Universität zu Berlin in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre Geschichte studiert und in den frühen 1980er Jahren als wissenschaftlicher Assistent gearbeitet hat, muss ich trotzdem deutlich widersprechen.

Nie zuvor in der Geschichte der westlichen Mitte Europas und wohl auch künftig lange Zeit nicht mehr gab und wird es eine so enge Verknüpfung zwischen Produktivitätsfortschritt und sozialer Teilhabe für eine übergroße Mehrheit der Bevölkerung geben wie in der Zeit zwischen 1955 bis 1995. Niemals zuvor lebten mitten in Europa so viele Menschen in Freiheit und verhältnismäßig großer sozialer Sicherheit.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte der gleichsam unvölkische, weil gegen Volksinteressen gerichtete, wie ungenossenschaftliche, weil dem ursprünglichen Genossenschaftsgedanken Hohn sprechende so genannte Nationalsozialismus gründlich abgewirtschaftet. Mit ihm war auch das von den Nazis unangetastet gelassene wirtschaftliche Grundprinzip einer höchst möglichen Kapitalverwertung auf Teufel komm raus in Verruf geraten.

Es gab also Mitte 1945 gute Gründe für einen grundlegenden gesellschaftlichen Neuanfang nicht nur auf deutschem Boden. Dies galt unabhängig davon, ob sich die Lenin-Stalinsche zentral geleitete Planwirtschaft mit ihrer diktatorischen Parteiführerherrschaft zur Meisterung dieses Neuanfangs als geeignet oder letztendlich dafür als gänzlich außerstande erwies.

Selbst die CDU vertrat in den ersten Jahren nach Kriegende einen „Sozialismus aus christlicher Verantwortung. (2) So sprach sich der Vorsitzende der CDU von Berlin-Brandenburg und spätere CDU-Vorsitzende von West-Berlin, Jakob Kaiser, am Vorabend des sowjetzonalen Zusammenschlusses von KPD und SPD zur SED im Februar 1946 nicht nur als Christ, sondern auch als Demokrat für eine gesunde sozialistische Ordnung aus und argumentierte gegen die Idee einer Demokratie, die sich in dem Ideal eines formalen Abstimmungsmechanismus erschöpfte. Nach ihm genügte es nicht, dass jeder Deutsche gleiches Stimmrecht hätte. Es müsste auch jeder Staatsbürger die gleiche Chance haben, wirklich an der Willensbildung seines Volkes teilzunehmen. Davon konnte aber seiner Ansicht nach solange keine Rede sein, als es innerhalb des Volkes Leute gab, die aufgrund privatrechtlicher Titel, kraft eigener Besitzvollkommenheit überragende wirtschaftliche Machtstellungen innehaben. (3)

 
Bildquelle 1: Jakob Kaiser auf dem Parteitag der Ost-CDU 1947. Zu diesem Zeitpunkt stand mindestens in Groß-Berlin die Partei noch nicht unter SED-Kontrolle   Bildquelle 2: Das Ahlener Programm der CDU von 1947 propagierte einen 3. Weg zwischen dem diskreditierten Kapitalismus und marxistischem Sozialismus.

Genau solche Leute hatten nämlich durch ihre unverantwortliche Kungelei mit terroristischen Gewalttätern in der Zeit zwischen den Weltkriegen eine große Mitschuld an dem während des Zweiten Weltkrieges stattfindenden millionenfachen Völkermord auf sich geladen. Sie hatten mit gewissenlosen und unmenschlichen Abenteurern paktiert, um den so genannten marxistisch-bolschewistischen Revolutionsbazillus auszumerzen und ihre schier unstillbare Großmacht- und Profitgier zu stillen. Am bitteren Ende trat das Gegenteil des Gewollten ein und Stalins Rote Armee stand an Elbe und Werra, wodurch weite Gebiete Europas für die direkte Kapitalverwertung ausgefallen waren.

Das wieder rückgängig zu machen, kostete für die alten und neuen Herrschaftseliten den sehr hohen Preis einer weitgehenden sozialen Einhegung der Kapitalverwertung mindestens an den Nahtstellen zu den Gebieten, wo die mehr schlecht als recht funktionierende gesellschaftliche Herausforderung stattfand. Im Westen Deutschlands wurden entgegen vorherrschender wirtschaftlicher Grundprinzipien, aber ungeachtet dessen trotzdem durchaus gewinnträchtig riesige Investitions- und Kreditprogramme aufgelegt, um beispielsweise mit der Marshall-Plan-Hilfe, die Containment- und Roll Back-Strategie der endvierziger und fünfziger Jahre wirtschaftlich zu untersetzen.

Gleiches galt für konzertierte Aktionen nebst Sozialreformen in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts sowie für die Stabilitäts- und Neue Ostpolitik. In den Westsektoren Berlins herrschten allein wegen des bloßen Bestehens der „Fußnote“ DDR rings herum durch die Bereitstellung riesiger Finanzspritzen aus dem Bundeshaushalt beinahe staatssozialistische Verhältnisse, nur dass dort die Grund- und Freiheitsrechte für jedermann galten und alle das Recht besaßen, überall hin verreisen zu können, wo es beliebte und solange der reichlich per Öffentlichen Dienst und Berlin-Zulage unter die Leute gestreute Geldvorrat reichte.

 
Bildquelle 3: West-Berlin blieb auch nach dem Mauerbau das Schaufenster der „freien Welt“ in Mitten des von den Sowjets beherrschten Machtblocks. Das DDR-Fernsehen vermied es, bei seltenen Berichten aus West-Berlin Filmaufnahmen von dieser Stadthälfte zu zeigen, um nicht Begehrlichkeiten zusätzlich zu schüren.   Bildquelle 4: Der Sender Freies Berlin (SFB) sendete vormittags an allen Werktagen in der Magazinsendung Berolina Verbrauchertipps, wo allein die Preisangaben für die Palette der angebotenen Südfrüchte wirksamere Werbung für die westliche Konsumgesellschaft machte als jede noch so ausgeklügelte antikommunistische Propaganda.

Selbst im umliegenden Gebiet zwischen Ostseeküste und Mittelgebirgen, in der Fußnote also, sammelten die Menschen in dieser Zeit nicht unbedeutende Erfahrungen beim zumindest zeitweiligen Versuch eines gesellschaftlichen Aufbruchs ohne Anwendung des Prinzips höchstmöglicher Kapitalverwertung als Motor und Antrieb für rasante, aber auch zerstörerische Entwicklungen der Produktivkräfte. Dass der Versuch, eine von übertriebener Ausbeutung freie Gesellschaft zu errichten, aus vielerlei Gründen vermutlich von Anfang an chancenlos bleiben musste, spricht nicht gegen die dabei gemachten Erfahrungen.

Dieser gesellschaftliche Aufbruchsversuch scheiterte nicht nur wegen der schlechter ausgestatteten materiell-technischen Basis und der unwirksameren Zentralverwaltungswirtschaft, sondern auch deshalb, weil im Osten ähnlich wie im Westen Umwelt zerstörerische, erdgebundene, nichterneuerbare Energieträger Anwendung fanden, was nicht zuletzt wegen der schlechteren Ausgangsbedingungen im Osten dort noch größere Umweltverschmutzungen und -schäden verursachte. Außerdem missachteten die einheitssozialistischen Führer in ihrem Machtbereich spätestens nach den Sperrmaßnahmen des Sommers 1961 die alte jüdische Weisheit sträflich, wonach du da bleiben möchtest, wo du kannst gehen – also einen im Menschen tief verwurzelten Freiheitsdrang.

 
Bildquelle 5: Das Foto zeigt ein Kollektiv von Technikern, Konstrukteuren, Meistern und Arbeitern der sozialistischen Gemeinschaftsarbeit im VEB Injekta in Steinach, das sich das Ziel gestellt hatte, einen für das Jahresende 1959 abzuschließenden Entwicklungsauftrag bereits zum 10. Jahrestag der DDR-Gründung zu erfüllen. Dabei handelte es sich um Zubehörteile (Metallfaltbalge aus V2A oder V3A Sonderstählen) für Chemieanlagen und das Kernforschungsprogramm, die bis dahin weder im In- noch im Ausland hergestellt wurden.  

Bildquelle 6: Das Foto zeigt Schüler der 5. Klasse einer zehnklassigen Polytechnischen Oberschule in (Ost-) Berlin-Friedrichshain in der ersten Hälfte der 1960er Jahre. Jungpioniere trugen bis zur 5. Klasse ein blaues Halstuch, Thälmannpioniere ab der 5. bis zur 8. Klasse ein rotes Halstuch und FDJler das so genannte Blauhemd mit dem Emblem der aufgehenden Sonne am Arm. Den Grad der politischen Bedrückung erkennt man unschwer an der Anzahl der ein Pionierhalstuch tragenden Schüler. Kennzeichnend für diese Schulform war die schrittweise Heranführung der jungen Leute an die berufliche Bildung durch den Unterrichtstag in der sozialistischen Produktion oder Landwirtschaft (UTP, später PA) ab dem 7. Schuljahr.

 

 

Der Versuch aber, durch Gewährleistung sozialer Grundstandards und eines freien Zugangs zu allgemeiner Bildung für alle, denjenigen, die das wollten, unabhängig vom sozialen Stand und damit auch vom elterlichen Einkommen ein kulturell anspruchsvolles Leben zu ermöglichen, bleibt zukunftsweisend für all jene, die auch fürderhin eine weltweite Kultur der Menschlichkeit anstreben. Im Jahre 1990 stand in der Wochenzeitung „Die Zeit“ zu lesen, dass der Zusammenbruch des todkranken „Realsozialismus“ noch kein Gesundheitsausweis für den übrig gebliebenen Kapitalismus bedeute. Der Autor spielte in dem Beitrag auf die gleichen, nicht nur energetischen Wurzeln beider Systeme an.

Niemand bestreitet die große Bedeutung der aufklärerischen, freiheitlich-demokratischen Wurzeln der westlichen Gesellschaften. Die Geschichte und das literarische Schaffen eines Thomas Mann lehren aber, dass alle Schönheit des oberen Lebens und die Pracht Pharaos selbst die Krume des breiten, bedürftigen Lebens bräuchten, um darüber zu blühen und der Welt ein Staunen zu sein. (4) Dass also die Freiheit weniger Menschen fast immer auf der verhältnismäßigen Unfreiheit vieler fußt und Freiheit für möglichst viele, wie Bundeskanzler Willy Brandt im Frühjahr 1973 im Deutschen Bundestag erklärte, nur auf der Grundlage eines Mindestmaßes an Freiheit von Not und Ausgrenzung bestehen kann.

So etwas verursacht aber Kosten, die einer höchst möglichen Kapitalverwertung entgegenstehen, weswegen es starker Gegenkräfte gegen den übermächtigen Drang bedarf, vorgeschossenes Kapital möglichst schnell, ertragreich und ohne Rücksicht auf Befindlichkeiten Betroffener zu verwerten. Solche Erkenntnisse gehörten unabhängig von politischen Bedrückungen zum Rüstzeug zeitgeschichtlicher Forschungen in der Fußnotenzeit.

Den Wert westlicher Demokratien abgetrennt von ihren wirtschaftlichen Grundlagen und den daraus erwachsenden Widersprüchen herauszustellen, nährt zumindest den Verdacht einer ungenügenden Beachtung oder gar Ignoranz gegenüber den Leistungen solch namhafter Historiker wie Eric Hobsbawn oder einem seiner geistigen Vorfahren Ibn Chaldun. Nach Hobsbawn stellt beispielsweise die Marxsche Theorie deshalb bei weitem den besten Zugang zur Geschichte dar, weil sie klarer als andere erkennt, was menschliche Wesen als Subjekte und Urheber ihrer Geschichte beeinflussen können und worauf sie als Objekte der Geschichte keinen Einfluss haben. (5)

Der Theorie über die wechselseitigen Durchdringungen zwischen der Art und Weise des Wirtschaftens und dem, was sich an geistig kulturellen Erscheinungen und Institutionen darum rangt, kommt auch deswegen heute noch große Bedeutung zu, weil Marx als Erfinder der Wissenssoziologie eine Theorie darüber entwickelt hat, in welcher Weise die Vorstellungen von Historikern ihrerseits durch ihre gesellschaftliche Existenz bedingt sind. (6) Letzteres gerät leider bei aller Würdigung wissenschaftlicher Einzelleistungen zu oft und allzu vorschnell ins Hintertreffen. Mindestens vor diesem Hintergrund sollte sich ein renommierter Historiker wie Professor Wehler die Geschichte mit der Fußnote nicht ganz so einfach machen.

(1) Vgl.: Hans Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 5, München 2008, S. 424/425 u. S. XV/XVI
http://lesesaal.faz.net/wehler/texte.php?tid=1
(2) Vgl.: Hermann Weber, Geschichte der DDR. München 1985/1999, S. 113
(3) Vgl.: Der soziale Staat. Hrsg. CDU, Berlin o. J. (1946) S. 13
(4) Mann, Thomas, Joseph und seine Brüder. Bd. 4, Frankfurt am Main 1997, S. 43
(5) Eric Hobsbawm, Wieviel Geschichte braucht die Zukunft? München 2001, S. 93
(6) ebenda S. 93

Bildquelle 1: Deutsches Bundesarchiv, Bild 183-19000-1213 / Urheber: unbekannt / CC-BY-SA 3.0
Bildquelle 2: http://www.kas.de/wf/de/71.9132/
Bildquelle 3: http://www.turus.net/fotostrecke/gesellschaft/berlin-50er-und-60er-jahre.html?page=3&catpage=2#category
Bildquelle 4: http://alviond.net/aarhus/
Bildquelle 5: Deutsches Bundesarchiv Bild 183-63349-0002 / Urheber: Gahlbeck, Friedrich / Lizenz CC-BY-SA 3.0
Bildquelle 6: Im Privatbesitz befindliches Klassenfoto

 Rudolf Reddig

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