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 Hubertus Knabes Unrechtsstaat

Selbstverständlich hält, mit der Elle idealtypisch bürgerlich demokratischer Rechtsnormen gemessen, das zwischen 1949 und 1989 bestehende Regime im Gebiet zwischen Ostseeküste und Mittelgebirgen keinem Vergleich mit der freiheitlich demokratischen Grundordnung Westdeutschlands stand. Allein dass die SED-Führung den Bürgern ihres Staates ursprünglich verfassungsmäßig verbriefte Grundrechte und -freiheiten vorenthielt, lässt Raum für begründete Zweifel, ob sie die unter ihrer Führung gesetzten Rechtsnormen selbst unter allen Umständen und Gegebenheiten immer ernst genug nahm. Zweifelsohne sprachen die Verfolgung und Drangsalierung politisch Andersdenkender, die Praxis vieler diesbezüglicher Gerichtsverfahren und ebenso vieler gefällter Urteile strengen rechtsstaatlichen Prinzipien Hohn.

Reichen aber diese unbestrittenen Verletzungen der Gesetzlichkeit aus, der DDR in Gänze den Stempel eines Unrechtsstaates aufzudrücken? Wer allzu schnell den Stab brechen will, sei daran erinnert, dass die Rechtsstaatlichkeit im Geltungsbereich des Grundgesetzes und in West-Berlin von einer nahezu ungebrochenen Personalkontinuität ehemaliger Nazi-Richter, Nazi-Staatsanwälte und übriger staatlicher Vollzugsorgane des Dritten Reiches in den 1950er und frühen 1960er Jahren überschattet wurde. Warum regt sich bei Hubertus Knabe angesichts dieses offenkundig skandalösen, aber durchaus folgerichtigen Makels nicht die Spur eines Zweifels an der Rechtsstaatlichkeit im frühen Nachkriegswirtschaftswunderland?

Diese Art des undifferenzierten Umgangs mit Zeitgeschichte erinnert den im Osten sozialisierten Historiker an einseitig interessengeleitete und damit wollenschaftliche Praktiken während des eigenen Studiums und der sich daran anschließenden Assistenztätigkeit an der Humboldt-Universität zu Berlin. Abgesehen davon, dass jedes einzelne Opfer von Unrecht ein Opfer zuviel ist, redet Hubertus Knabe von 200 000 Opfern des SED-Regimes und macht die Leute glauben, all diese Opfer seien in den Folterkellern des Stasigefängnisses in Hohenschönhausen gequält worden. Nach Spiegel-Online Angaben haben 16 000 Personen Anspruch auf eine Entschädigung. Sicherlich müssen zu den Opfern noch etliche Tausend Menschen mit höherem Einkommen hinzugerechnet werden.

 

 

 
Bildquelle 1: Illegale Aufnahme des Speziallagers Nr. 7/1 Sachsenhausen von Richard Perlia (1949). Der Geheimdienst NKWD errichtete in der SBZ zehn solche Speziallager Im Speziallager Sachsenhausen saßen 60 000 Internierte/Verurteilte ein, wovon etwa 12 000 zumeist an Krankheit, Hunger und Entkräftung starben.   Bildquelle 2: Wie in vielen Weltgegenden einschließlich nicht weniger westlicher Staaten weiterhin an der Tagesordnung gehörten Prügel, Schlafentzug, Isolationshaft auch in den Gefängnissen östlich von Elbe und Werra zwischen den Jahren 1949 und 1989 zum Alltag. Der Allmacht des Gefängnispersonals waren wenig Grenzen gesetzt.

Trotzdem klafft zwischen Knabes öffentlich verkündeten Opferzahlen und einer der Wahrheitssuche verpflichteten Schätzung ein beträchtlicher Unterschied. So registrierte die Zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter zwischen 1962 und 1990 insgesamt 30.752 politische Verurteilungen: Waren es 1970 noch weit unter 1.000 Personen, so lag der höchste Wert 1985 bei etwa 2.300. Die Zentrale Erfassungsstelle nennt jedoch nur die Zahl der Verurteilungen und nicht die der Inhaftierten (1). Johannes Raschka schätzte die Zahl der politischen Häftlinge in der DDR für die Zeit von der Mitte der 70er Jahre bis zum Ende der Amtszeit Honeckers auf durchschnittlich ca. 3.000 pro Jahr (+/– 200 bis 300) (2).

Vermutlich schlägt Hubertus Knabe die Zahl der zwischen 1945 (Kriegende) und 1950 von der Sowjetischen Militäradministration (SMA) in der Mehrzahl wegen Nazi- und Kriegsverbrechen Internierten/Verurteilten auf die Gesamtopferzahl der in der DDR aus politischen Gründen Verfolgten drauf und kommt so auf 200 000 Menschen. Laut einer Denkschrift des Ministeriums für Innere Angelegenheiten der UdSSR aus dem Jahre 1990 (3) und wissenschaftlicher Untersuchungen Karl Wilhelm Frickes internierte/verurteilte die SMAD im Zeitraum 1945 bis 1950 etwa 122.671 Personen (4).

Mir erzählten Bekannte nach einem Besuch des von Hubertus Knabe geleiteten Museums etwas von 2 Millionen Opfern des SED-Regimes. Dieses Herumwerfen mit Zahlen erinnert an die Tonnenideologie der Einheitssozialisten am Ende der 1950er Jahre oder an die astronomisch hohen Planerfüllungszahlen. Bei mir entsteht jedenfalls der Eindruck, dass Knabes Opferzahlangaben die besondere Grausamkeit des SED-Regimes herausstellen soll. Geht das nicht auch eine Nummer kleiner, dafür aber wirklichkeitsnaher und deshalb sogar wirkungsvoller? Oder geht es wie stets nur um plumpe Propaganda?

Wem oder was nützt Aufarbeitung der SED-Diktatur, wenn Herr Knabe, wie bei Anne Will geschehen, die dort angesprochenen und von den USA zu verantwortenden Folter-Praktiken der letzten Jahre einfach ausblendet und anhand von vorgeblichen Ähnlichkeiten bei der Aufarbeitung der beiden deutschen Diktaturen doch irgendwie Gleichheitszeichen zwischen nationalsozialistischer und einheitssozialistischer Diktatur zu setzen versucht. Damit offenbart der Leiter des Stasimuseums wie gewohnt eine geradezu unerträgliche Einseitigkeit. Folter bleibt immer unmenschlich, egal von wem und in welchem noch so erklär- oder entschuldbaren Interesse sie ausgeführt wird.

Den Unterschied der beiden Diktaturen in Deutschland kann man schlecht an den Opferzahlen oder am Grad der angewandten Foltermethoden messen. Die Zweistaatlichkeit in Deutschland und die über Mauer und Stacheldraht trotzdem mögliche wechselseitige Beeinflussbarkeit verhinderte Opferzahlen wie in China oder der Sowjetunion, wo es rein zahlenmäßig vergleichbare Opfer wie in der Nazizeit gab. Auch verursacht Folter in einem Nazi-Gefängnis die gleichen Qualen wie in einem NKWD-Gefängnis der 1930er Jahre oder Stasi-Gefängnis in den frühen 1950er Jahren.

Der Unterschied besteht in der gesellschaftlichen Kontinuität und im Grad der Zustimmung der Bevölkerung zu den beiden Diktaturen auf deutschem Boden. Die Nazi-Herrschaft änderte grundsätzlich wenig an den sozioökonomischen Verhältnissen, weshalb es nach 1945 im Westen auch relativ bruchlos weitergehen konnte. Die einheitssozialistische Herrschaft veränderte dagegen sehr viel, weswegen bis heute die große Wut auf die Kommunisten fortbesteht. Nachdem die Nazis bis 1939 etwa 300 000 Widerständler in den Konzentrationslagern eingesperrt hatten, gab es eine über achtzigprozentige Zustimmung in der Bevölkerung. In der DDR kommt man höchstens zeitweilig auf eine Zustimmungsrate in der Bevölkerung von etwa 15 bis 19 Prozent, was das Ausmaß der Herrschaft kennzeichnet.

(1) Sauer, Heiner / Plumeyer, Hans-Otto: Der Salzgitter-Report. Die Zentrale Erfassungsstelle berichtet über Verbrechen im SED-Staat, Esslingen, München 1991.
(2) Raschka, Johannes: „Für kleine Delikte ist kein Platz in der Kriminalitätsstatistik“. Zur Zahl der politischen Häftlinge während der Amtszeit Honeckers, Dresden 1997. S. 43-46.
(3) Vgl.: Wilhelm Heinz Schröder, Jürgen Wilke, Politische Strafgefangene in der DDR. Versuch einer statistischen Beschreibung. In: Historical Social Research, Bd. 23, 1998, Nr. 4, S. 14
(4) Vgl. K.W. Fricke, Politik und Justiz in der DDR, Köln 1979., S.98.
Bildquelle 1: http://www.stiftung-bg.de/gums/de/geschichte/speziallager/spezial01.htm
Bildquelle 2: http://commons.wikimedia.org/w/index.php?title=Special%3ASearch&search=Bild+183-1990-0123-049&fulltext=1 /Fotograf: Bernd Settnik / Lizenz CC-BA-SA 3.0

 Rudolf Reddig

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