Im Ergebnis der Völkerwanderung, die mit dem Einbruch der Hunnen 375/376 n. u. Z. nach Ostmitteleuropa begann, zur alsbaldigen Teilung des Römischen Reiches in Ost- und Westrom nach dem Tode des römischen Kaisers Theodosius I. im Jahre 395 n. u. Z. führte und schließlich mit dem Einfall der Langobarden in Italien 568 n. u. Z. endete, entstand im Jahre 476 n. u. Z. in Gallien (heutiges Frankreich und Belgien) ein germanisch romanisches Reich – das Frankenreich unter Führung von Chlodwig I. (466–511), einem Heerführer aus dem Geschlecht der Merowinger. Unter Führung des im Jahre 800 in Rom zum Römischen Kaiser gekrönten Karl I. (747–814) aus dem merowingischen Nachfolgegeschlecht der Karolinger stieg das Frankenreich zum frühmittelalterlichen Großreich auf, das als Nachfolgestaat des spätantiken Weströmischen Reiches die politischen Geschicke der Mitte Europas für die erste Hälfte des 9. Jahrhunderts bestimmte. (1)
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Bildquelle 1: Siegelring mit dem Bildnis Childerichs, einem Sohn des Königs Merowech und Vater von Chlodwig I. Mit ihm beginnt die Stammlinie der Merowinger.
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Bildquelle 2: Karolingische Reiterei: Die karolingischen Adeligen benutzten für das frühe Mittelalter bis dahin noch wenig gebräuchliche Sättel, Rüstungen, Zaumzeuge und vor allem Steigbügel. |
Das Karolingerreich reichte bis zur Reichsteilung unter den Nachfahren Karls des Großen 842/843 in südliche Richtung bis zu dem oberen Teil Italiens und im Osten bis an die Elbe sowie im Südosten bis nach Ungarn. (2) Aus dem Karolingerreich entwickelte sich über das Westfrankenreich im 10. Jahrhundert unter Luis Capet der Einheitsstaat Frankreich und aus dem Ostfrankenreich schon unter den sächsischen Ottonen, im 10. Jahrhundert beginnend und sich in den beiden Nachfolgejahrhunderten fortsetzend, Deutschland, das allerdings noch weitere sechshundert Jahre in Kurfürstentümer, Königreiche, Fürstentümer und Herzogtümer sowie freie Reichsstädte zersplittert blieb. Dazwischen lag Lotharingen, das als Grenzland Elsaß-Lothringen immer mal wieder zwischen Frankreich und Deutschland hin und her wechselte und seit 1945 zu Frankreich gehört.
Unter Historikern gibt es bis heute einen Streit, ob das deutsche Volk anders als die anderen europäischen Völker gewissermaßen überzeitlich lange vor der Gründung einer wie auch immer gearteten deutschen Staatlichkeit entstand oder im Ergebnis der Herausbildung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 11. bzw. endgültig 12. Jahrhundert. So veröffentlichte ein Dominikanermönch Giovanni Nanni (1432–1502) alias Annius von Viterbo im Jahre 1498 das sich später als Fälschung erweisende Werk eines vorgeblich babylonischen Priesters Berosus (324–261 v. u. Z.), nach dem der Stammvater der Germanen und Sarmaten Tyscon in direkter Linie vom Archebauer Noah abstammte, was bei deutschen Humanisten des 16. Jahrhunderts wie Heinrich Bebel (1472–1517), Ulrich von Hutten (1488–1523) und Jakob Wimpfeling (1450–1528) wegen ihres Bemühens um Reichseinheit und die dafür nötige Herausbildung eines deutschen Nationalbewusstseins großen Anklang fand. (3)
In ein ähnliches Horn blies der deutsche Humanist Johannes Aventinus, auch Hans Turmair (1477–1534), der sich ebenfalls auf Berosus berief und erklärte, dass schon vor dem künigreich Troja wol sibenhundert jar das teutsch erzkünigreich gestanden ist, das genau 71 Jahre nach der Sintflut begründet worden wäre. (4) Nachdem schon der italienische Papst Pius II., Enea Silvio Piccolomini (1405–1464) in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die keltischen Boier zu den Stammvätern der Baiern erklärt hatte, schloss der bis heute berühmteste Chronist der Bayern Aventinus daraus, dass Kelten und Gallier Deutsche und Baiern wären und dass der Brief des Apostel Paulus an die Galater (Kelten) natürlich an die Baiern gerichtet gewesen sein müsste. (5)
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Bildquelle 3:
Der Historiker Johannes Aventinus (* 4. 07.1477 in Abensberg (Niederbayern); † 9. 01. 1534 in Regensburg), der eigentlich Johann Georg Turmair hieß und seinen Namen in Aventinus, der Abensberger, latinisieren ließ, gilt als ein Wegbereiter der klassischen Philologie in Deutschland. |
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Bildquelle 4: Christian Matthias Theodor Mommsen (* 30. 11. 1817 in Garding, Schleswig-Holstein; † 1. 11. 1903 in Charlottenburg gilt als der bedeutendste Historiker und Altertumswissenschaftler des 19. Jahrhunderts und erhielt im Jahre 1902 den Nobelpreis für Literatur |
Selbst der bis heute wissenschaftlich anerkannte Historiker Theodor Mommsen (1817–1903) schrieb in seiner Römischen Geschichte am Ende des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Varus-Schlacht im Jahre 9 n.u.Z. von Großdeutschland und verlegte damit unter dem Einfluss eines in dieser Zeit überall in Europa, besonders aber im nach der Reichsgründung von 1871 wiedererstandenen Zweiten Deutschen Kaiserreich ausufernden Nationalismus die Geschichte von Deutschland auf 2000 Jahre zurück. (6)
Auf dem Höhepunkt des Dritten Reiches trieb der dort ins Unwirkliche übertriebene Nationalismus sogar solche Blüten, nach denen angeblich die deutsche Geschichte bis 4000 Jahre zurückreichte. (7) Während im Nachkriegswestdeutschland die Mittelalterforschung die auch namentlich aktenkundige deutsche Staatsentstehung für das 10. Jahrhundert feststellte, versuchte die Mittelaltergeschichtsschreibung der DDR in den 1970er Jahren wegen der damals aufkommenden Abgrenzungsideologie zum sich als einzig rechtmäßigen Nachfolgestaat des Deutschen Reiches verstehenden westdeutschen Angstnachbarn eine auch quellenmäßig ausdrücklich als deutsch belegte Staatsentstehung so weit wie möglich nach hinten bis ins 13. Jahrhundert zu verlegen.
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Bildquelle 5: Papst Gregor VII stritt im Investiturstreit mit dem Kaiser Heinrich IV. hauptsächlich um die Frage, wer die Kirchengewaltigen im Reich ein- oder absetzen darf, was hieß, wer größere Machtbefugnisse über die gläubigen Untertanen besaß. |
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Bildquelle 6:
Heinrich IV. (kniend) bittet die Burg- und Markgräfin von Canossa Mathilde von Tuszien und seinen Paten, den Abt Hugo von Cluny, um Vermittlung bei seinen Bemühungen um die Loslösung vom Kirchenbann durch den Papst. |
Deshalb lag der international durchaus anerkannte DDR-Mediävist Professor Eckhard Müller-Mertens von der Humboldt-Universität voll auf der seinerzeitigen SED-Abgrenzungslinie, wenn er den frühen Ausdruck „regnum Teutonicorum“ oder „Teutonicum“ in der Bannsentenz der Fastensynode vom Februar 1076 als Kampftitulatur herunterspielte, mit der Papst Gregor VII. (1020–1085) in dem Investiturstreit mit Kaiser Heinrich IV. (1050–1106) dessen außerdeutschen Ansprüche auf Böhmen, Polen, Ungarn, Burgund u.s.w. ausdrücklich ausschließen wollte. (8)
Nach bisheriger wissenschaftlicher Erkenntnis entstand der Name Deutsch tatsächlich aus dem lateinischen theodisk (volkssprachlich), entwickelte sich über das in amtlichen Primärquellen nicht überlieferte westfränkische theudisk weiter und wandelte sich im 9. Jahrhundert zum althochdeutschen (ostfränkischen) diutisk. Daraus bildete sich im 11. Jahrhundert allmählich die germanisierte heutige Form heraus.
Ähnliches gilt für die Bezeichnung des gleichnamigen Volkes in der Mitte Europas. Aus germanischen Völkerstammen entwickelten sich mitten in Europa ab dem 8. Jahrhundert theodisce (volkssprachige Leute), woraus im 10. Jahrhundert theutonici (immer noch Volkssprachler) und wenig später, wie eine Urkunde Kaiser Ottos I. von 969 belegt, teutonici (germanischsprachige Leute) wurden. Im 11. Jahrhundert benutzte man in den amtlichen Dokumenten immer häufiger in Anlehnung an das altgermanische Volk der Teutonen die Wendung teutonicus, woraus später deutsches Volk in Gebrauch kam. Im 12./13. Jahrhundert setzte sich schließlich die offizielle Titulierung des mittelalterlichen Deutschland als „Heiliges Römisches Reich", ab dem späten 15. Jahrhundert mit dem Zusatz „Deutscher Nation“ durch. (9)
Während die skandinavisch germanischen Völker wegen der räumlichen Sonderlage bis in die heutige Zeit größtenteils unter sich blieben, kam es in der Mitte Europas zu einer Vermischung zwischen den germanisch volkssprachig deutschen, slawisch volkssprachigen und romanischen Völkerschaften einschließlich der Juden und Ungarn. Ungeachtet dessen leben in der Mitte Europas über die Jahrhunderte bis heute überlieferte, einst germanisch volkssprachige, später deutsch völkische Eigenheiten und Traditionen fort.
(1) Vgl.: Der große Plötz. Freiburg im Breisgau 200 S.358f. u. 378f.
(2) Vgl.: Propyläen Weltgeschichte. Berlin, Frankfurt/M, Wien 1962 S. 293ff.
(3) Carlrichard Brühl, Die Geburt zweier Völker. Köln, Weimar, Wien 2001 S. 20
(4) ebenda S. 23
(5) ebenda S. 24
(6) Theodor Mommsen, Römische Geschichte. 4. Aufl. Berlin 1894, Bd. V S. 32
(7) Kurt Pastenaci, Das viertausendjährige Reich der Deutschen. Berlin 1940
(8) Eckhard Müller-Mertens, Regnum Teutonicum. Aufkommen und Verbreitung der deutschen Reichs- und Königsauffassung im frühen Mittelalter. Wien/Köln/Graz 1970. Im Investiturstreit geht es um die Frage, ob der Kaiser oder der Papst die Äbte und Bischöfe einsetzt.
(9) Unbekannt: Verzeichnuß / Deß Heyl: Römischen Reichs / Teutscher Nation / Hochlöblichster: Hoch: und Wollöblicher Stände / nach den Zehen Reichs-Craissen /. . 1663, S. 3. Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, http://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Verzeichnis_Staende_1663_003.jpg&oldid=1001841 (Version vom 16.1.2010)
Bildquelle 1: http://de.wikipedia.org/wiki/Merowinger / Urheber unbekannt / Lizenz gemeinfrei
Bildquelle 2: Aus: Goldener Psalter (9.Jh.), St. Gallen, Stiftsbibliothek, http://www.michaelmaxwolf.de/mittelalter/karl_der_grosse/karl_der_grosse.htm
Bildquelle 3: http://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Aventinus / Urheber: DALIBRI (S. Kormann) / Linzenz gemeinfrei
Bildquelle 4: Bildquelle 4: Nationalgalerie Berlin, A I 315, http://de.wikipedia.org/wiki/Theodor_Mommsen / Urheber: Ludwig Knaus / Lizenz eingeschränkt gemeinfrei
Bildquelle 5: Weltgeschichte - Eine Chronik, ISBN 3-88703-814-2 http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Pope_gregory_vii_illustration.jpg / Urheber unbekannt / Lizenz gemeinfrei
Bildquelle 6: Codex Vat. lat. 4922 von ca. 1115, http://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_IV._(HRR) / Lzenz gemeinfrei |